Projektbeschreibung

Das Projekt Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne geht von der Frage nach Berührungspunkten in den Erinnerungskulturen, d.h. in den historisch und kulturell variablen Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses (Erll 2005) aus; zugleich soll es auch Berührungspunkte in den Konstruktionsprinzipien gemeinsamer kultureller, vor allem literarischer Strukturen in Zentral- (und Südost-)Europa erforschen. Im Vordergrund wird dabei der Raum der ehemaligen Habsburger Monarchie stehen, zeitlich soll der Fokus auf den letzten beiden Jahrhunderten, d.h. seit dem mit dem Einbruch der Moderne eingeleiteten Prozess des nation building und den damit zusammenhängenden Auflösungstendenzen übernationaler Staatsgebilde sein. Das komplexe Netz wechselseitiger Beziehungen auf dem Gebiet der Donaumonarchie, ein Netz, welches sich insbesondere durch kulturelle Differenzen und asymmetrische Machtverhältnisse konstituiert, wird unter dem Begriff des Imperialen subsumiert.

Der Begriff des Imperiums ist aus der geopolitischen Geschichte (Münkler 2005, Osterhammel 2009) entlehnt und kann sowohl auf das übernationale Staatsgebilde des Habsburgerreiches wie auch auf andere, für den untersuchten (Zeit-)Raum bedeutende staatliche Formationen wie Osmanisches, Russisches oder Hohenzollern-Reich angewendet werden, Machtbereiche, an denen sich die transnational angelegten Erinnerungskulturen beleuchten lassen. Im vorliegenden Projektvorschlag wird das ‚Imperium’ als ein komplexes Narrativ verstanden, als eine Art Erzählkonstrukt also, das sich in verschiedenen Kontexten unterschiedlich konstituiert und zur Beschreibung oder Erklärung bestimmter Sachverhalte herangezogen wird. Betrachtet man das Imperium als ein komplexes Erzählkonstrukt, so wird sich zeigen, dass es einerseits unterschiedliche, durch gemeinsame Erfahrungen entstandene Unternarrative in den Erinnerungskulturen kumuliert; andererseits wird es auch als ein übernationaler Raum von erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten verstanden, in dem oft divergierende Narrative und Erzählstrategien entstehen, die sich in veränderter Form bis in unsere Gegenwart perpetuieren. Der narratologische Kontext des Imperiums-Begriffs ist mit unserer Überzeugung verbunden, dass sich nationale, zugleich aber auch übernational-imperiale Kulturen als „Erzählgemeinschaften“ (Müller-Funk 2002) betrachten lassen, die sich voneinander v.a. hinsichtlich ihres Erzählreservoirs unterscheiden.

Wenn vom Habsburgerreich die Rede ist, so ist das vorgeschlagene Projekt weder am ‚Recycling’ seiner nostalgischen Potenziale (‚habsburgischer Mythos’) noch an dessen politisch-ideologischer Verdammung (‚Völkerkerker’) interessiert. In den Vordergrund wird hingegen – und ähnliches gilt auch für den Begriff Zentraleuropa – das Widerspiel der kulturellen Konzepte zwischen der übernationalen und den einzelnen nationalen Sphären, parallel dazu aber auch zwischen den nationalen Sphären untereinander gerückt. Die Aufmerksamkeit soll dabei insbesondere auf die Verquickung von Kultur, Sprache und Politik in diesem kulturellen Raum, auf die Dynamik von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, von Partikularismus und Universalismus gerichtet werden. Wichtige Vorarbeiten zu diesem Themenkomplex wurden auch von einigen Projektteilnehmern in den 2000er Jahren (z.B. Müller-Funk/ Plener/ Ruthner 2002) durchgeführt (z.T. auf der Internetplattform Kakanien revisitedwww.kakanien.ac.at – erreichbar).

Als Untersuchungsbasis dient v.a. die Literatur, jenes Medium, das über besondere Fähigkeit verfügt, die Bestände der Erinnerungskulturen und damit auch die Prozesse individueller wie auch kollektiver Identitätsbildung komplex darzustellen. In diesem Zusammenhang soll v.a. der Frage nachgegangen werden, wie nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche im Medium der Literatur funktionieren, wie sie miteinander und gegeneinander in Berührung geraten und wie sie dabei für konkrete (politische, ideologische, ästhetische) Zwecke instrumentalisiert werden. Angestrebt wird detaillierte Analyse exemplarischer Texte aus der deutschsprachigen, kroatischen und anderen zentraleuropäischen Literaturen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, wobei in bestimmten Fällen auch ältere Texte herangezogen werden können; in einem geringeren Umfang sollen auch Analysen von Filmen, medialen Formaten oder repräsentativen kulturellen Projekten vorgenommen werden.

Zu erforschen sind im genannten Rahmen die dem literarischen Feld entsprungenen und weiter entwickelten Narrative, Bilder, symbolische Formen, Identitäts- und Gedächtniskonstruktionen, die auf vielfältige Überschneidungen von kulturell produzierten Räumen hinweisen. Somit wirft das vorgeschlagene Projekt auch imagologische, an den Prozess der nation building angelehnte Fragen auf, wobei im Vordergrund v.a. die Produktion von Auto- und Heterostereotypen stehen wird. In diesem Zusammenhang sollen namentlich Repräsentationen von Zentren und Peripherien, von Hegemonie und Marginalisierung, von Grenzziehung und Grenzüberschreitung anvisiert werden, Dichotomien, welche allerdings nicht als absolute Gegensätze, sondern als relationale Größen aufgefasst werden, über deren Tragweite in jedem konkreten Fall zu reflektieren wäre. Besonderes Augenmerk soll auch auf die Einbeziehung der Vergangenheit, ihren narratologischen Wandel sowie auf ihre Funktion in der und für die Gegenwart gelegt werden.

Insbesondere das – in der postkolonialen Theoriebildung neuaktualisierte – Oppositionspaar Zentrum/Peripherie verfügt über eine eigene Dynamik, was es als geeignet erscheinen lässt, reale gesellschaftliche Machtverhältnisse wie auch die durch sie bedingte Praxis der symbolischen und narrativen Identitätskonstruktionen in der Literatur (und Kultur) zentraleuropäischer Länder zu erforschen. Die Asymmetrie in der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung dieser Länder impliziert das Vorhandensein potenziell imperial(istisch)er Herrschaftsformen (vgl. Magris 1963, Münkler 2005, Osterhammel 2009 usw.).

Im Verhältnis von Kultur und Herrschaft ist eine weitere wichtige Frage des vorgeschlagenen Projekts angelegt, die Frage, ob sich die Habsburger Monarchie auch als ein (halb)koloniales Reich begreifen lässt. Bei der Beschäftigung mit diesem Sachverhalt darf der Unterschied zwischen dem ‚klassischen’, außereuropäischen Kolonialismus und dem sog. europäischen Binnenkolonialismus nicht übersehen werden, der sich insbesondere an den Dichotomien Freibeutertum/Bürokratie, Postkolonialismus/nationale Emanzipation, Außereuropäer/Slawen usw. festlegen lässt.

Der Umstand, dass die Fragestellung des Projekts historisch übergreifend angelegt ist, soll nicht ihrer Aktualität hinderlich sein. Im Gegenteil, sie ist gerade deswegen aktuell und relevant, da damit z. B. auch die kulturellen Hintergründe gegenwärtiger Konfliktzonen beleuchtet werden können. Zugleich sollen die ehemaligen transnationalen staatlichen Formationen den heutigen national ausgerichteten Grenzziehungen entgegensetzt werden, um sie zu relativieren und damit einen Vorschlag zur Konzeptualisierung eines sich vereinigenden Europa zu entwerfen.

Mitglieder des Forschungsteams sind sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sich ein so breit angelegtes Forschungsfeld nur durch eine differenzierte methodologische Herangehensweise auf der einen und durch eine präzise Definierung und Strukturierung einzelner Projektsegmente auf der anderen Seite ins Visier fassen lässt. In diesem Sinne soll die Durchführung des Projekts in folgenden vier aufeinander bezogenen Themenkomplexen erfolgen:

  1. Postkolonialismus und Postimperialismus als theoretische Oberbegriffe (Erarbeitung gemeinsamer theoretisch-methodologischer Grundlagen, exemplarische Beispiele aus der zentraleuropäischen Geschichte): Zentrum-Peripherie-Problematik in Narration; ‚Kolonialismus’-Diskurs in der kroatischen, ungarischen und anderen zentraleuropäischen nationalen Traditionen; Forschungskonzepte wie „Orientalismus“, „Balkanismus“, „Hybridität“ u. a. und ihre Ergiebigkeit in der Beschäftigung mit binneneuropäischen (post)imperialen Verhältnissen… The Project Proposal intends to open up a discursive space in the field of micro- and intra-European colonialism both in literature and historical reality to reflect asymmetrical relationships of dominance and subordination in term of cultural difference, alterity and power. One of the main questions is: Is there a decentralizing effect stemming from the peripheral views of the former crown lands of the Dual Monarchy?
  1. (Post)imperiale Komplexe und ihre Nachwirkungen (habsburgischer Machtkomplex, Osmanisches Reich, deutsches Kaiserreich, Zarenreich/Sowjetunion, Jugoslawien): Okzident/Orient (Österreich-Ungarn/Osmanisches Reich); Vergleiche wären insbesondere in Narrativierungen dieser Machtkomplexe zu erforschen, wobei v.a. Fragen von Multiethnizität und Multireligiosität, von Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, von imperialen Führungsstrukturen und konkurrierenden nationalen Bestrebungen als zentral erscheinen werden. Zu erforschen wäre des Weiteren auch, how the transnational and cross-cultural dynamic of (semi-)colonialism has transformed Central European identities and cultures, combining global impact with regional diversity. Diese Aspekte, die eine besonders wichtige Rolle in literarischen Narrativen spielen und bisher nur werk- oder autorbezogen behandelt wurden, sollen in übergeordneten Zusammenhängen betrachtet werden. Als einige bedeutende Forschungsfelder bieten sich „Konflikte um Narrative“ (wie sie etwa bei Grillparzer, Krleža und anderen zentraleuropäischen Autoren zum Vorschein kommen) sowie literarische Deutungsstrategien postjugoslawischer Konflikte im deutschsprachigen Kontext.
  1. Mehrsprachigkeit in Imperien: Dies betrifft die Frage nach Produktivität des kulturellen Transfers in multilingualen Grenzgegenden wie auch Konflikte um die Einführung neuer Standardsprachen, ihre Reflexe in Literatur und Kultur. Untersucht werden soll insbesondere die Mehrsprachigkeit im Theater, das als öffentliche Institution sozialen und politischen Erschütterungen unmittelbar ausgesetzt ist; eine Rekonstruktion solcher Prozesse kann zur Klärung von Mechanismen nationaler Mobilisierung und Integration beitragen, die in Konflikten zwischen deutschsprachigen und nationalsprachlichen Literatur- und Theaterkonzepten zum Vorschein kommen. Diese Frage ist eng verbunden mit der geopolitischen Position der Länder wie Kroatien an der Peripherie der Habsburger Monarchie und soll in Hinblick auf die Erkenntnisse der imaginären Geographie (Schlögel 2007) wie auch imagologischer Forschungen ausgeweitet werden.
  1. Gegenwartshorizont: Europa und die Europäische Union als postimperiales und post-nationales Gebilde: alte und neue Europa-Narrative zwischen Modernisierung und Ablehnung, Selbst- und Fremdbilder, Grenzziehungen: Ist Europa ein Gebilde, dessen narrative und symbolische Gestaltung für eine gemeinsame ‚Großerzählung’ ausreichen würde? Wie lassen sich gemeinsame, gesamteuropäische Narrative im Gegensatz zu den nationalstaatlichen Narrativen bestimmen? Welche Berührungspunkte lassen sich zwischen den traditionellen imperialen Machtbereichen und der Europäischen Union festhalten?

Jeder der genannten Themenkomplexe soll in regelmäßigen Arbeitstreffen und Workshops bzw. Symposien aufgearbeitet werden, an denen sich – neben dem Forscherteam und geladenen Referenten – auch international anerkannte Key Note Speaker, die relevante Arbeiten auf dem zu erforschenden Gebiet geleistet haben, beteiligen sollen.

Die gesellschaftspolitische Bedeutung des Projektes ist insbesondere in der gemeinsamen Bearbeitung der Vergangenheit zu suchen: Dieses Anliegen, welches von der Konstruktivität kultureller Produkte ausgeht und Zentraleuropa als Forschungsparadigma nimmt, soll sowohl auf der nationalen Ebene, d. h. in der Erforschung national spezifischer Narrative im literarischen Medium, als auch auf der regionalen, zentral-, darüber hinaus auch südosteuropäischen Ebene, d. h. in der Bestimmung von Berührungspunkten gemeinsamer kultureller Strukturen sichtbar werden. Von dem Projekt können Ergebnisse zu den Fragen erwartet werden, die historische Dimensionen aktiver Identitätsprozesse, z. T. auch aktiver Konfliktzonen betreffen. Aus dem Zwischenspiel der nationalen und regionalen Ebene soll auch die (gesamt)europäische Dimension des Projekts hervorgehen. Transnationale Erinnerungskulturen sind für das kulturelle Verständnis und die Konzeptualisierung eines sich vereinigenden Europa von erstrangiger Bedeutung.

 

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